Der vollgestopfte Zug leerte sich. “Verruckt, dieses Volk!” staunte manch einer auf dem Weg zur Höhenmatte. Am 16. Touch The Mountains in Interlaken feierten 28’000 Besucher den 1. Tag des neuen Jahres zusammen mit drei CH-Top-Acts. Lausanne Rapper Stress, die Berner Halunke und Lo & Leduc boten abwechslungsreiche Shows mit bester Unterhaltung und viel Emotionen.
Heiteres Grau
Wer rümpfte an diesem Mittwochmorgen schon nicht die Nase beim Anblick der dicken Nebelsuppe. Leider sollte es am Nachmittag in Interlaken auch nicht besser sein. “Happy New Year und seid lieb zueinander!” rief einer beim Halt am Bahnhof Interlaken West durch den ganzen Zug. Brachte damit alle zum Grinsen. Das graue Wetter vermochte die gute Stimmung offensichtlich nicht zu trüben. Ausserdem gab es auch heuer wieder die ganze Strasse entlang Glühwein, Punsch oder heisse Schoggi, um sich zu wärmen. Verpflegung war ebenfalls zu genüge vorhanden.
Die Guggenband spielte wie gewohnt in der Ecke nach dem Bahnübergang und auf dem Ice Magic versuchten sich einige als Eistänzer. Beim Hotel Victoria stellten sich gerade Alphornbläser wieder auf und der obligatorische Selfiestopp an der Jahreszahl-Eisskulptur musste natürlich auch sein. Es versprach im Allgemeinen ein heiterer Tag zu werden.
Stress: „Hört einander zu!“
So sprang um 14:00 der Lausanner Rapper Stress in dicker Daunenjacke auf die Bühne und legte zusammen mit der Band energisch los. Gitarrist Sacha haute im kunterbunten Anzug in die Saiten. Sagt mal, trägt der Keyboarder etwa ne Skibrille? Aber viel wichtiger war, wo sind eigentlich Karo und MAM? Das wäre ja was ganz Neues, würden sie fehlen. Nach den ersten 2-3 Songs kamen aber auch die beiden durch die Tür des verspiegelten Hauses gesprungen.
Stress und seine Crew präsentierten eine tolle Setlist aus alten und neuen Songs und feuerten wie gewohnt das Publikum mit voller Power an. “Rester soi-même” – auch mit dem neuen, anbrechenden Jahrzehnt bleibt sich Stress treu. Sassen die einen oben in den Bäumen, um seine Show mitzuverfolgen, bildeten die anderen während „R.A.F“ die von Stress geforderten Moshpits. Nicht nur unter den „Privilegierteren“ im Golden Circle liess er die Kreise bilden, auch die ausserhalb im Gratisbereich sollten mitmachen… Stress selber sprang natürlich mitten rein. Bis man ihn von aussen total aus den Augen verlor und fast nicht bemerkte, dass er bereits wieder zurück auf der Bühne stand.
Indessen reflektierte Stress die vergangenen Jahre. Sie seien alle natürlich älter geworden und haben teils sogar Kinder bekommen. Deshalb bedeute ihnen der neue Song “God Knows” so viel. Den singt Stress auf seinem aktuellen, bisher persönlichsten Album “Sincèrement” mit dem Britischen Singer/Songwriter JP Cooper. Stress zeigte überdies auch an diesem Nachmittag immer wieder seine ruhigere und sensiblere Seite. Einerseits in dem er mit Karolyn am anderen Ende des Golden Circles “Avenues” und “Libéré” in reduzierter Form zum Besten gab. Andererseits sprach er mit berührenden Worten über seine Depression und rief dazu auf, diese Krankheit nicht zu ignorieren. Man müsse sie akzeptieren. Wir sollen uns Zeit nehmen und einander zuhören. Ein guter Vorsatz fürs neue Jahr! Ich erinnerte mich an den Mann im Zug zurück. Stress unterstrich seine Worte zusätzlich mit dem Song “Petit pensée”. Feuchte Augen waren da irgendwie vorprogrammiert.
Bildstrecken: Stress am Touch The Mountains 2020
Natürlich durfte gegen Ende Show “Elle” nicht fehlen. Es wurde kräftig mitgesungen und Arme wurden geschwenkt. Derweilen endete Stress’ Show nach über 1 Stunde genauso energiegeladen, wie sie angefangen hatte.
Die Halunke feiern
Das kunterbunte Backdrop der zweiten Band brachte viel Farbe in den düsteren Tag. Bereits vor 7 Jahren am Touch The Mountains dabei gewesen, feierten Halunke heute nicht nur das neue Jahr sondern mit diesem Heimspiel auch gleich den Start ihres 10 jährigen Jubiläums.
Mit „Superheld“ starteten Halunke ihr Set. Naja, ob das Leben 2020 tatsächlich ein „Ponyhof“ sein wird? „Schiffbruch“ werden wir hoffentlich nicht erleiden. Von „Level 7“ ging es für Frontmann Häni und Anja dann über den imaginären Laufsteg einmal quer durch den Golden Circle auf Tuchfühlung mit den Zuschauer. Der Kameramann hinter her und auch der Security Mann in der orangen Leuchtweste folgte. Hier ein Händeschütteln, da eine Umarmung und ein kurzes Selfie lag ebenfalls drin. Häni schon längst am ausgewählten Standort, wartete etwas ungeduldig auf seine Frau und Managerin Anja. Wo blieb sie denn nur? Dann endlich konnten die beiden ihr Duett starten: Eine wunderschöne unplugged Version von „Houston we are ok“.
Zurück auf der Bühne erhoben sie mit „Rote Wy“ das Glas auf die legendären Lokalmatadoren Polo Hofer und Hanery Ammann. Sie widmeten das Lied allen, die sich auf irgendeine Weise gerne mögen. Und da ja wohl alle das Lied kennen würden, konnte auch gleich jeder schön mitsingen. Die Show wurde von Bassist Mazo’s Tanzchoreos sowie kurzem Instrumental-Medley wie mit Michael Jackson‘s „Billy Jean“ oder „Seven Nation Army“ ergänzt. Hiebei dann auch noch aus Häni’s Geschichten und Erzählungen die Ironie rauszuhören, war manchmal etwas tricky.
Bildstrecken: Halunke am Touch The Mountains 2020
Verabschieden taten sich Halunke indem, dass sie das langwierige Zugabeprozedere schlichtweg übersprangen und mit dem nicht vorhandenen Zürcher Rapper im Duett ein letztes Mal richtig Gas gaben.
Lo & Leduc trotzen der Kälte mit heissen Rhythmen und Humor
Begannen die einen ihre Tour an diesem Neujahrstag, beendeten andere ihre – so Lo & Leduc. Die Wortakrobaten sprangen zur Band auf die Bühne und… nichts! Die Lippen bewegten sich. Gitarrist und Bassist griffen in die Saiten, während Keyboarder Lukas in die Tasten haute. Ausser einige dumpfe Schlagzeugbeats hörten wir aber davon nichts. Gelassen spielten Lorenz Häberli & Luc Oggier halt ein, zwei Runden „Schere Stein Papier„, bis die Technik den Fehler behoben hatte. „Bini bi dir“ – jap, nun waren sie voll bei uns und das Publikum vom ersten Ton auch bei ihnen!
Eine mitreissende Setlist mit wunderschönen Balladen, viel Wortwitz, gutem, teils sehr trockenem Humor und viel Gelassenheit begeisterte die Menge. Es wurde mitgeklatscht, getanzt und textsicher mitgesungen. Aber galt der kräftige Applaus denn tatsächlich ihnen oder war er mehr Mittel zum Zweck gegen die Kälte? Am 01.01. draussen zu spielen sei ja irgendwie schon etwas verrückt, gaben die beiden im Laufe des Auftritts zu. Allen voran Lo, der die Jacke sehr bald wieder überzog.
Die Latin-Rhythmen zu „Cuba Bar“ animierten zum Tanzen und wärmten sicher etwas. Ebenso heizte Lo‘s Freestyle aus spontan gewählten Worten der Konzertbesucher einmal mehr kräftig ein. Leduc gestand dabei, dass er die Worte wie Altjahrswoche, Fleisch, Schnuiz oder Nachttischlampe bereits wieder vergessen hatte, bevor Lo mit dem Reimen überhaupt begonnen hatte. Dass die Altjahrswoche mittlerweile vorbei war, begrüssten sie übrigens. Es sei ja immer so verwirrend mit den Tagen.
Die Herzen erwärmen tat derweilen der Anblick der von tausenden Handylichter gefluteten Höhenmatte, während Sängerin Julia Portmann mit heller und klarer Stimme „Pluto“ anstimmte. Das Licht sei also die beste Funktion an Handys. Apropos Handy: ihr Überhit „079“, für den Lo & Leduc so gehypt wurden, sie sämtliche Rekorde brachen und Auszeichnungen abräumten, fehlte natürlich nicht. Mit dem Hype haben sie sich ausserdem inzwischen versöhnt und die aktuelle EP so getauft.
Mit „Risotto“ und der Feststellung, dass sie vielleicht doch irgendwann noch ein Comedyprogramm auf die Beine stellen werden – – ha, da habe einer gelacht – kam die Gruppe bereits ans Ende ihrer Show. 45min vor dem Feuerwerk? Konnte kaum stimmen? Aber sie müssten sich eben etwas beeilen, weil ein Teil der Band dringend aufs WC müsse, grinste Luc.
Bildstrecken: Lo & Leduc am Touch The Mountains 2020
Mit dem feurigen „Jung verdammt“ ging es in die Zugabe über, der „Marathon Maa“ machte den Endspurt und mit gechillten Reggaebeats zu „Mond“ verabschiedeten sich Lo & Leduc endgültig in ihre Konzertpause.
Goldregen über Interlaken
Sobald das Feld geräumt war, gab es natürlich wie jedes Jahr noch das grosse Pyromusical. Zu musikalischen Bond-Titeln wie “Skyfall” und “Goldfinger” erhellte das Feuerwerk Interlaken nicht nur mit Goldregen. Die unermüdlichen Party-People erwartete im Kursaal eine Aftershowparty mit Chuelee. Einmal mehr, ein schöner, entspannter und unterhaltsamer Neujahrsanfang.
Infos zum Touch The Mountains findet ihr hier: www.touchthemountains.ch
Infos zu den Bands: